© Horst Bauer Quergedacht

Mein Kommentar

Kein Ventil, um Luft abzulassen, sondern Auseinandersetzung mit dem, was ich nicht ändern kann
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Der Verlust des Urteilsvermögens


Früher gab es Personen, auf deren Urteil man sich verlassen hat. Der Ingenieur urteilte über die Realisierbarkeit eines Plans, über die Qualität der Ausführung. Der Lehrer vergab die Noten auf einen Aufsatz aus seiner Einschätzung der Leistung. Der Bankbeamte schätzte die Kreditwürdigkeit des Kunden ein. Meist waren die Urteile richtig, gelegentliche Abweichungen wurden als menschlich und unvermeidbar akzeptiert.
Dies hat sich anscheinend grundlegend gewandelt. Vergibt ein Lehrer eine schlechte Note, erscheinen sofort aufgebrachte Eltern zum Protest. Oder sie klagen gleich vor Gericht gegen die erkannte Benachteiligung. Der Lehrer kommt in eine Zwangslage, in der er sich rechtfertigen muss. Gute Ausbildung und langjährige Berufserfahrung reichen nicht mehr aus, ein Urteil zu rechtfertigen. Es müssen im Detail die Gründe für die vergebene Note belegt werden. Dies droht auch dem Architekten, wenn dem Häuslebauer nach dem Einzug der Lichteinfall im Wohnzimmer nicht gefällt. Oder dem Bankangestellten, wenn der Kunde nach Verlusten seiner Aktien behauptet, er hätte nichts über das Risiko der 50% Gewinn versprechenden Anlage gewusst.
In allen Fällen führt dies dazu, dass sich der Experte absichert. Alles wird im Detail dokumentiert, Urteile nur noch aufgrund detaillierter Kriterien gefällt. Kriterien werden nur angewandt, wenn sie messbar sind. Der Begriff "Qualität" wandelt sich vom Sprachgebrauch der Künstler - dieses Bild hat eine hohe Qualität - zum Normbegriff der Industrie, der detailliert beschriebene Anforderungen und messbare Kriterien voraussetzt.
Leider geht dadurch auch die gefühlte Qualität der Leistungen und Produkte verloren. Der Ingenieur versucht nicht mehr, seine Vorstellungen von einem guten Werk umzusetzen. Er verwendet seine Energie, die Kundenanforderungen im Detail zu dokumentieren und genehmigen zu lassen, sowie Messgrößen und Mindestanforderungen für die Leistung vertraglich festzuschreiben. Für die Realisierung werden nur anerkannte standardisierte Methoden oder Materialien eingesetzt. Damit sichert sich der Leistungserbringer ab. Hat der Häuslebauer vergessen zu sagen, dass er im Arbeitszimmer kein direktes Sonnenlicht will, kann er sich hinterher nicht über die Reflexionen des großen Fensters auf seinem Bildschirm beschweren und Nachbesserung verlangen. Der Lehrer wird bei Schulaufgaben eine Frageliste mit Auswahlantworten bevorzugen, weil er die Note dann direkt aus der Anzahl Fehler belegen kann. Deutschlehrer haben es da schwerer, da man einen Aufsatz nur schlecht anhand der Anzahl Rechtschreib- und Grammatikfehler oder Abweichungen von der Gliederung benoten kann. Bei Zweifeln über die Wertung von Argumentation und Ausdrucksweise muss er dann oft den Klagen der Eltern nachgeben.
Darunter leidet die Innovation. Neue Ideen entsprechen keinen Normen und sind nicht nach vorgegebenen Kriterien messbar. Zur Anwendung der Normen reicht geringere Ausbildung der Experten. Folge der industriellen Qualitätssysteme, die zur Absicherung der Verantwortlichen eingesetzt werden, ist ein Rückgang der gefühlten Qualität, Steckenbleiben im Alten und damit der Weg in den Untergang.
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